Saron
sortierte die Post, die während seiner Abwesenheit
eingegangen war. Der Haufen mit der Werbung war schon recht groß,
als er einen handgeschriebenen Brief entdeckte, dessen Absender
ihm unbekannt schien. Er öffnete ihn und las.
"Lieber
Saron, du kennst mich wahrscheinlich nicht, ich bin vor
einiger Zeit mal ein Stück Wegs mit Dir gewandert, als Du
uns von Deinem Gottesbild erzählt hast und mit den Worten E.
Cardenal sagtest: weil Gott auf dem Grunde einer jeden Seele
wohne, könne die Seele nur mit Göttlichem angefüllt
werden, oder so ähnlich. Ich habe inzwischen so einiges über
Gott gelesen, habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen,
dass es Gott nicht gibt. Gott ist nur eine Projektion(1) der
positiven Eigenschaften des Menschen in ihrer höchsten und
reinsten Form. Die negativen Eigenschaften behält der Mensch
für sich selbst, weil er sich eher mit ihnen verbunden
fühlt, oder er projiziert sie auf einen "Teufel".
Daher sagst du, ist der Mensch von Anfang an schlecht, weil er
sich so denkt. Und indem er die allerbesten Eigenschaften Gott
zuschreibt, ist der ein Wesen, das unendlich klug, freundlich,
hilfsbereit ist und uns vor unseren negativen Eigenschaften, also
vor uns selbst schützt. Offenbar hat der Mensch Angst vor
den höchsten positiven Eigenschaften, traut sie sich nicht
zu und projiziert sie als sein Gottesbild. Von diesem erbittet er
sie dann zurück, also im Grunde von sich selbst, denn sie
sind schon in ihm, nur weiß er das nicht. Der Mensch
erfährt sich als vergänglich, fehlerhaft, böse,
ohnmächtig, sündhaft, also als das schlechthin
Böse. Deshalb denkt er sich Gott als unvergänglich,
fehlerfrei, gut, mächtig, heilig also als das Gute in
höchster Potenz. Und du hast recht Saron: Gott entsteht
in jeder Seele immer wieder neu, er ist ein Teil der menschlichen
Unzulänglichkeit. Je minderwertiger ein Mensch sich fühlt,
desto mehr braucht er diesen Gott in sich und je mehr ein Mensch
zu den göttlichen Höhen, z.B. der perfekten
Nächstenliebe aufsteigt, desto lieber nennen wir ihn einen
"Heiligen", also einen Gott ganz nahe Stehenden, wie
etwa Mutter Theresa, Gandhi, Luther King etc.. Religion ist,
vereinfacht ausgedrückt, Hinwendung des Menschen zu sich
selbst und Gott ist dann ein ausgelagerter Teil des Menschen, zu
dem er spricht, wenn er z. B. betet. Und der Glaube an den
Opfertod Jesu bedeutet nur, wer sich für andere hingibt,
handelt nach den höchsten, also göttlichen Maßstäben.
Der Glaube an die Auferstehung drückt nur den Wunsch des
Menschen nach Unsterblichkeit aus. Sorry Saron, aber ich
wollte Dir das gerne schreiben, weil Du Dir solche Mühe
gegeben hast, uns das Wirken Gottes zu erklären. Das hat
mich angesprochen und ich habe einfach weitergedacht! Dir und
Deiner Frau alles Gute. Liebe Grüße aus X"
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